Waschzeremoniell
sorceress2001
08:29h
Im Sternzeichen der Fische geboren, doch eigentlich von Natur aus Sonnenanbeterin, empfinde ich keine Freude an den Wetterkapriolen des sich ankündigenden Herbstes. Schlicht und ergreifend, es nervt, macht mich müde und zieht mich in die dunkelsten Abgründe meines Ichs.
Für eine Seelenmassage sorgt in solchen Momenten ein gemütliches Plätzchen im ledernen Ohrensessel, eine feine Tasse Kaffee und endlos viel Nikotin. Sitzen, nachdenken und in Ruhe gelassen werden. Das ist es, was ich jetzt will.
Dabei kommen mir die seltsamsten Gedanken. Sie trudeln vor meinem inneren Auge und wirbeln herum, als hätten sie nichts Besseres zu tun.
Gestern waren sie wieder zu Besuch. Die Seltsamen. Erst unklar, verworren, doch je intensiver ich mich mit ihnen beschäftigte umso klarer sah ich. Was ich sah? Mein Leben, zerstückelt in Szenen, ähnlich einer Theateraufführung. Eine dieser Szenen, eine Erinnerung an meine frühe Kindheit, dass allabendliche Waschzeremoniell. Der alte Wasserboiler in unserer Küche, einem Monster gleich, ächzte und krächzte vor sich hin. Bibbernd und ängstlich stand ich vor dem Waschbecken und wartete bis die Großmutter die Keramikmulde mit lauwarmem Wasser gefüllt hatte. Kein Tropfen durfte verschwendet werden. Daher wurde zuerst der Gummistöpsel in das Becken gequetscht, der Zahnputzbecher unter dem verkalkten Wasserhahn balanciert und gefüllt zur Seite gestellt.
Kläglich tröpfelte das wertvolle Nass derweil ins Becken, während ich hoffte, es möge diesmal nicht zu kalt sein. Der uralte Boiler hatte seine eigenen Vorstellungen von der Wassertemperierung. Nur all zu oft war ich dem Kälteschock näher als der wohligen Wärme. Im Übrigen, auch die Küche war unbeheizt. Ein Badezimmer kannte ich nicht, in meiner Kindheit. Zwei Waschlappen aus Frottee warteten auf ihren Einsatz. Einmal pro Woche wurden sie ausgekocht, der Hygiene wegen. Seife wurde sparsam verwendet und reichte monatelang. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil es immer die gleiche Sorte war. Billig, die Augen reizend, so dass ich stets heulen musste. Sorgfältig wusch mich die Großmutter, manchmal schrubbte sie auch mit einer Bürste.
Heute würde ich sagen, mit solchen Bürsten entfernt man Rost von Stahl. Unangenehm. Während die Waschlappen über meinen kleinen Körper "fitschelten", gab es kaum eine Stelle die tatsächlich länger als einen Wimpernschlag angenehm warm wurde. Entenpellenalarm war angesagt, mit Sicherheit nicht vor Entzücken. Es schien eine Ewigkeit bis die Großmutter zufrieden mit ihrem Werk war. Aus dem Wohnzimmer schleppte sie dann ein Badelaken heran, welches am alten Kachelofen vorgewärmt wurde. Sie hüllte mich liebevoll darin ein, so als wollte sie sich entschuldigen für die Kälte der vergangenen Minuten. Wie eine Schmetterlingspuppe im Seidenkokon hüpfte ich ins Wohnzimmer und durfte mich 10 Minuten aufwärmen. Zärtlich streichelte die Großmutter in dieser Zeit meinen kleinen Kinderrücken. Ich fühlte mich geborgen und umsorgt. Während ich in meinen Flanellschlafanzug schlüpfte reinigte sie sorgfältig das Keramikbecken und befreite es vom schmierigen Seifenrand. Noch schnell die Zähne geputzt, das kalte Wasser war tatsächlich schon zur Gewohnheit geworden. Nun war ich bereit für mein Bett.
Solang ich mich zurück erinnern kann, trug Großmutter mich auf ihren Armen ins Schlafzimmer und versenkte mich mit einem Lächeln in den Kissenbergen. Bedächtig zupfte sie die Daunendecke zu Recht, streichelte mein Gesicht bevor sie mich innig an sich drückte. Dann löschte sie wortlos das Licht und schloss die Tür. Wenn ich heute unter meiner Dusche stehe, das Wasser wohltemperiert und das Duschgel angenehm duftet, sehne ich mich oft nach dem angewärmten Badelaken und vor allem nach Großmutter.
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Hallo (Zeitschrift Kurzgeschichten 04/2005)
sorceress2001
08:27h
Und wieder so ein Tag an dem sich Fassungslosigkeit breit macht. Erschreckendes Entsetzen und letztendlich heulendes Elend reichen sich die Hände, schütteln sich warm.
Ich stehe in diesem fein getünchten Hausflur, den Türknauf noch in der Hand. Warte auf meinen Fahrgast. "Hallo, Hallo" höre ich es schallen, durchdringend, gleichzeitig zerbrechlich wie Glas. Es hat keinerlei Bedeutung, für mich. Ich warte ja nur. "Hallo, Hallo" da ist es schon wieder, fordernder. Ich wische es weg, denn es stört mich. Meine Hand friert langsam am Türknauf fest. "Hallo, Hallo, jetzt habe ich dich erkannt", klingt es. Fast erleichtert denke ich "schön, endlich." Ich kann nicht gemeint sein. Mein Fahrgast sucht nach dem Wohnungsschlüssel. Bereit für die Reise. Da ist es wieder dieses "Hallo", bettelnd, es macht mich mürbe, tut weh in meinen Ohren. Mein Fahrgast meint, dass gehe nun schon seit 30 Minuten so, an Hilfe dachte sie bisher nicht. Sie kann die Treppen nicht steigen, sie ist selbst gebrechlich und alt. Keiner im Haus steigt die Treppen nach oben, niemand ist da der es könnte.
Ich könnte, ich bin gesund. Mein Fahrgast nimmt im Wagen Platz. Ich suche das "Hallo". Es steht in der Tür, verloren, alt und hilflos. Es ruft, ruft nach mir!? Es sieht mich und ein kurzes, aufflackerndes vermeintliches Erkennen erleuchtet den Hausflur.
Ich kenne es nicht, dieses "Hallo". Ich kenne nur den Hausflur, seit Jahren.
Es muss zur Toilette sagt es und das mir, einer vollkommen Fremden. Ich steige die Treppen nach oben und nun sehe ich es zum ersten Mal. Eine alte Dame, ist die Ruferin. Ihr ehemals weißes T-Shirt hatte sicher auch schon bessere Tage gesehen, genau wie sie selbst. Mit der offenen Vertrautheit eines 3 jährigen Kindes bittet sie mich zu sich herein. Sich stützend auf eine vierrädrige Gehhilfe. Froh ist sie, der Einsamkeit entkommen, diesmal.
Der Gang zur Toilette, vergessen. Unkenntnis darüber wer oder was ich bin. Nicht einmal wissend, wer oder was sie ist.
Ich helfe ihr in ihren Sessel, ein Glas Orangensaft auf dem Tisch, daneben eine Lesebrille, keine Zeitung. Im Zimmer breitet sich eine drückende Schwüle aus, es riecht unangenehm, ich kann kaum atmen. Ekel kriecht mich an oder ist es mein eigenes Entsetzen?
Gehorsam bleibt sie in ihrem Stuhl. Bevor ich die Wohnungstür hinter mir zu ziehe, bittet sich mich Paul zu suchen. Sie vermisst ihn, sie braucht ihn, sie wartet auf ihn. Ihren Paul. Wieder im Auto sitzend empfinde ich den Schmerz dieses Jammerbildes, bohrend, stechend. Ich kann es kaum glauben. Wer ist Paul? "Das war Frau P." sagt mein Fahrgast. "Sie hat Alzheimer, seit Jahren."
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