Montag, 11. Oktober 2004
Neugier

"Entschuldigen sie bitte. Verzeihung, sie da, ja sie. Darf ich fragen, was sie da gerade lesen?". Aufdringlich vor Neugier beugte sich die kleine rundliche Dame mit den silberfarbenen Pudellöckchen zu ihrem Gegenüber. "Ein Buch", nuschelte der ihr gegenüber sitzende, bereits etwas ergraute Gentleman unfreundlich. Diese knappe Antwort ließ die alte Lady unbefriedigt in ihrer Wissbegier. War doch für sie die alltägliche Fahrt mit der S-Bahn eine willkommene Abwechslung. Abermals beugte sie sich vornüber, um den Buchumschlag in Augenschein zu nehmen. Doch dieser wurde seiner Bestimmung vollends gerecht. Auch nicht einen winzigen Einblick gab er frei. "Ist es ein interessantes Buch?" fragte sie. Missmutig blickte der Gentleman kurz auf und erwiderte sein knappes "ja". Sich um einen gelangweilten Gesichtsaudruck mühend, blickte die Dame aus dem Fenster. In rasender Geschwindigkeit sausten Häuser an ihr vorüber. Abwechselnde Landschaftsbilder flimmerten vor ihren wachsamen Augen. Sie versuchte im Spiegel der Scheibe, dem Inhalt der offensichtlich hochinteressanten Lektüre auf die Spur zu kommen. Nun zückte er auch noch seinen goldenen Kugelschreiber und einen winzigen Schreibblock. Hastig kritzelte er darauf herum.
Ungeduldig rutschte die Dame auf ihrem Sitz hin und her. Ihr Herz begann zu rasen. Sie barst schier vor Neugier. Das war gar nicht gut. Ob der Körperfülle und des fortgeschrittenen Alters hatte ihr Hausarzt sie schon mehrfach und eindringlich gewarnt. Jegliche Aufregung müsse vermieden werden. Ihr Kreislauf schien bereits außer Kontrolle zu geraten, während das Blut in den Ohren rauschte. Sie erstarrte. Der Goldkugelschreiber musterte sie nun. Wenn auch kurz, so doch aufmerksam. Sie konnte seinen abschätzenden Blick genau sehen im Scheibenspiegel. Eiskalt, das linke Auge etwas verkniffen, so starrte er sie an, bevor er wieder etwas auf dem winzigen Schreibblock notierte. Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Düstere Gedanken. Was mochte er da kritzeln? Was ist das für ein Buch? Alles um sie herum begann sich zu drehen. Sie rang verzweifelt nach Atem, wie ein alternder Goldfisch nach dem Liebesakt. Kurz vor der Einfahrt in den kilometerlangen Tunnel geschah das Unerwartete. Die alte Dame fasste an ihr Herz, bevor sie in sich zusammensackte. Am Zielbahnhof angekommen konnte man nur noch ihren Tod feststellen. Es war zu spät. Der graumelierte Gentleman steckte Kugelschreiber und Notizblock seelenruhig in seine Manteltasche.
Schlug das mysteriöse Buch zu und begab sich zum Ausstieg. Der Strom von Transportwilligen flutete auf den Bahnsteig. Der Herr im Anzug langte mit stoischer Gelassenheit nach seinem Handy.
"Bestattungsinstitut Trauerweide, was können wir für sie tun?", meldete sich eine sonore Bassstimme. "Ich bin es, Chef die Arbeit ruft. Eben ist wieder eine ihrer Neugier zum Opfer gefallen. Die Sargmaße habe ich bereits aufnotiert, die Jungs können sie jetzt holen kommen."
Er sah der gerade auf dem gegenüberliegenden Gleis einfahrenden S-Bahn entgegen. Ließ sich mit all den anderen Reisenden hineinsaugen und nahm Platz. Ihm gegenüber eine üppig, rundliche, kleine alte Dame mit einer feinen Kurzhaarfrisur.

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Heimat

"Ich bin deine Heimat" flüsterte er.
"Geh weg", schrie ich ihn an, "du lügst".
Blind vor Zorn wandte ich mich von ihm ab. Auf gar keinen Fall konnte es so sein, wie er sagte. Niemals. Meine Heimat ist tot. Genau wie ich. Was fiel ihm eigentlich ein, mir solch eine ungeheuerliche Lüge als Wahrheit verkaufen zu wollen?
"So beruhige dich doch", sprach er. "Glaube und vertraue mir."
Wie konnte er nur. Mich in meinem Schmerz derart zu verhöhnen, einfach widerlich. Ich schloss meine Augen und verschloss mein Herz. Nein, auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass er zu meiner Heimat wird. Zu sehr hatte er mich gepeinigt, verunsichert, gehetzt. Die vielen Jahre in denen ich ihm vertraute. Wieder und immer wieder. Einmal muss es ein Ende haben.
Erbost über seine allgegenwärtige Liebe zischte ich ihn an: "Was denkst du, wer du bist? Wie kannst du nur behaupten ausgerechnet du wärest meine Heimat?"
Gütig lächelte er und sah mich an. "Du bist hier, hier bei mir. Du hast auch heute wieder zu mir gefunden. Doch deine Suche wird hier längst nicht beendet sein."
Ich spürte wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Am liebsten wäre ich schreiend davon gelaufen. Doch ich blieb. "Wenn es so wäre, wie du sagst, wo warst du all die Jahre? Warum hast du mich nach dir suchen lassen? Du warst nie für mich da, als ich dich dringend brauchte."
"Doch, ich war immer in deiner Nähe. Und du weißt es, sonst wärst du nicht hier", sagte er.
Fast verlor ich den Verstand. Wovon redete er? Ich hätte seine Nähe gespürt, mit Sicherheit, wenn er Recht hätte.
"Komm, ich zeige es dir."
Zwar sträubte ich mich, letztendlich ging ich mit ihm. Ich wollte ihm eine allerletzte Chance geben. Oder wollte ich diese Chance für mich?
Brennende Häuser, schreiende Frauen, weinende Kinder. All das zeigte er mir.
Ich verstand nicht was er von mir wollte. "Ich sehe Tod und Verderben und all das lässt du geschehen? Du bist ein Mörder!", schrie ich ihm zu.
"Nein", sprach er. "Ich bin die Heimat all dessen, was du siehst. Nicht ich lasse es geschehen, ihr lasst es geschehen. Ich bin machtlos. Es betrübt mich genau wie dich, doch ich kann es nicht ändern. Schau ganz genau hin."
"Du willst es nicht ändern", rief ich verzweifelt. "So unternimm doch endlich etwas. Mach diesem Spuk ein Ende, ich flehe dich an".
Aus gütigen Augen sah er mich an, streifte meine Wangen und strich sanft über mein Haar.
"Du kannst es ändern. Du bist Teil all dessen und du hast die Kraft. Steh auf und glaube daran. Vertraue darauf, ich bin deine Heimat."
Als ich bereit war meine Augen und mein Herz wieder zu öffnen, verzogen sich die Rauchschwaden der letzten Granateneinschläge. Ich erhob mich aus dem Staub der verbrannten Erde und dankte ihm, dass ich am Leben war.

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... Manchmal wär ich auch gern wieder Kind ...

Dann wäre alles, aber auch wirklich alles so gnadenlos einfach und schön. Kindlich romantische Vorstellungen tragen doch so viel Liebe in sich, unglaublich.

Letztens beim Abendessen mit unseren Freunden benahm sich unsere 7jährige auffallend vernünftig. Während ich an meinem Knäckebrot herumbröselte und dabei verstohlen in die Runde spähte blieben meine Blicke wie gebannt an ihr haften. Irgend etwas war anders heute. Sie lächelte versonnen vor sich hin, bereitete liebevoll ihr Brot zu und schien eins zu sein mit sich und der Welt.

Ganz still, fast schon beängstigend. Ihr Taint erschien mir ziemlich dunkel. Zuerst wunderte es mich nicht, schließlich sind ja Ferien und die Kids treiben sich den lieben langen Tag unter freiem Himmel herum. Gesund eben. Dann entschloss ich mich doch und fragte, womit sich das Kind denn eingecremt hätte, sie sah wirklich sehr braun aus, im Gesicht.
Gar nichts hätte sie gemacht, sprach die Kleine und überhaupt wäre sie ja gerade erst duschen gewesen. Keiner der am Tisch Anwesenden nahm weiter Notiz davon. So begnügte auch ich mich mit der Antwort und knabberte unverdrossen an meinen vegetarischen Lebensmitteln.

Später, als ich sie zu Bett brachte und der "Gute Nacht Kuss" fällig wurde, stutzte ich wieder. Abgesehen von der Gesichtsbräune, sie glitzerte zusätzlich wie eine Disco-Kugel. Nun fragte ich nochmals und eindringlich, woher die Veränderung käme. Eigentlich hatte ich selbst gedanklich mein Badezimmer schon durchstreift und war ihrer Antwort bereits voraus. Mütter sind schrecklich, ich weiß. Denn just in diesem Moment erinnerte ich mich an das alte Töpfchen "ägyptischer Tonerde", welches sich seit ewigen Zeiten im Bad herum trieb.

Und da kam auch schon die Antwort. Verschämt lächelte das Kind und druckste noch ein wenig herum.

"Ich wollte mich doch schön machen, für das Sandmännchen."

Peng, mit allem hatte ich gerechnet, doch nicht damit. Und schon sprudelte der Kindermund los. Meine Tochter erlebt gerade ihre erste große Liebe, gestand sie mir. Wenn sie doch gleich eingeschlafen wäre und das Sandmännchen sie besuchen käme, so wäre sie überzeugt davon, dass auch er sich verlieben würde, in sie. Daher hätte sie sich meine Make up Utensilien ausgeliehen.

Kind der Liebe, dachte ich, muss es denn ausgerechnet so ein altes hutzeliges Sandmännchen sein, dem du dein Herz schenkst. Gibt es keine anderen Männer, die solch eine "Aufbrezelei" auch zu würdigen wüssten. Wie z. B. "Bob der Baumeister" oder aber auch "Benjamin Blümchen"? Was hab ich da wohl falsch gemacht?

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Last update: 18.09.13, 12:00

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