Sonntag, 23. Oktober 2005
Im Wechsel der Jahre (Zeitschrift Kurzgeschichten 01/2005)

Vermutlich war Harrison Ford nicht ganz unschuldig daran, dass sich Stephanie du Bois in Jackson Hole niedergelassen hatte. Oder vielleicht lag es an dem tief, in ihrem Inneren wohnenden Fernweh? An den Indianerfilmen, welche sie als kleines Mädchen mit Begeisterung sah? Woran es auch gelegen haben mag, so lange sie sich zurück erinnern konnte, war es ihr Wunsch, in Amerika zu leben. Sie träumte bereits als Teenager von der viel gerühmten Freiheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Von den Abenteuern des Lebens, von faszinierenden Landschaften, endlosen Weiten.

Vor mehr als 10 Jahren hatte sie Deutschland verlassen um ihren Traum zu leben und ihrem Albtraum zu entfliehen. Kurz nach dem Unfalltod ihres Mannes verkaufte sie alles was sie besaß, nichts sollte sie mehr an die Vergangenheit erinnern. Nur ein Foto behielt sie von ihm.
Bob, ihr Mann, wollte keine Kinder. Zumindest nicht so kurz nach der Hochzeit. Oft und eigentlich nur deshalb kam es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen beiden. Er wollte zuerst an seiner Karriere arbeiten. Damit sie gemeinsam und unbesorgt in die Zukunft blicken könnten. Jedes Mal, wenn sie ihn darauf ansprach, antwortete er, „später, Schatz, dass hat noch Zeit“.
Während ihre Freundinnen sich über die tauglichsten Babywindeln stundenlang die Köpfe heiß redeten oder stritten, welches Spielzeug für Säuglinge pädagogisch besonders wertvoll erschien, blickte Stephanie sehnsüchtig in die niedlichen Babygesichter. Gedanklich malte sie sich aus, wie es wäre, so ein kleines Bündel Leben in den eigenen Armen zu halten. Es zu lieben und zu umsorgen, mit ihm zu lachen und zu weinen. Wie durch eine Nebelwand hörte sie von Ferne Bob’s sonore Stimme: „Wir haben Zeit, wir sind noch jung, Liebes. Lass uns später darüber nachdenken.“
Dann dieser schreckliche Tag. Der Silvesterabend 1994. Bob wollte noch einmal kurz in die Firma. Das Architekturunternehmen „Hansen & Partner“ hatte alle überarbeiteten Zeichnungen und Pläne für das bereits im Bau befindliche Einkaufszentrum geschickt. Bob musste dringend einen Blick hinein werfen um eine neue Preiskalkulation zu erstellen. Ausgerechnet am Silvesterabend. Musste das sein? Stephanies Eltern gaben eine Party zum Jahreswechsel. Sie wollten Bob einige neue und viel versprechende Auftraggeber vorstellen. Der alte du Bois war ein ausgebuffter Geschäftsmann. Er hatte die Baufirma zu dem gemacht, was sie heute ist. Gern hätte er sie seinem Sohn vererbt, doch Stephanies Bruder war nicht interessiert. Sein Interesse galt mehr der Verschwendung des Familienerbes, als einer geregelten Arbeit. Alle Hoffnungen des Alten, wie ihn alle liebevoll jedoch nicht ohne Respekt nannten, lagen auf den Schultern seines Schwiegersohnes. Für Bob ein echter Glücksfall, sich ausgerechnet in Stephanie zu verlieben. Damals, 5 Jahre zu vor.
Stephanie war bereits für die Party umgezogen und wartete ungeduldig auf die Rückkehr ihres Mannes. Ihre Mutter mochte es nicht besonders, wenn man sich zu ihren Partys verspätete. Und Stephanie wusste, wie wichtig neue Kontakte für Bob waren. Die Baubranche florierte im Moment nicht besonders. Das Geld war knapp, besonders bei den Bauherren. Aufträge waren nicht gerade üppig gesät.
Während sie noch einmal ihr Make up auffrischte, klingelte es an der Tür. Stephanie wunderte sich, denn Bob ging nie ohne Schlüssel aus dem Haus. Als sie die Treppe von der oberen Etage des Hauses nach unten kam, sah sie bereits durch die verglaste Haustür das flackernde Licht vom Dach des Polizeieinsatzwagens. Ihr Magen krampfte sich augenblicklich zusammen und sofort beschlich sie ein ungutes Gefühl. Sie öffnete die Haustür. Ihr gegenüber standen zwei Beamte der Verkehrspolizei. „Frau du Bois, wir bitten sie, uns zu begleiten. Es gab einen Unfall. Wir bringen sie in die Uni Klinik. Ihr Mann wurde schwer verletzt. Er liegt auf der Intensivstation.“ Der Boden unter ihren Füssen schien sich zu drehen, wie die Plattform eines Karussells. Stephanie begann am ganzen Leib zu zittern, als sie die Nachricht hörte. Sie strauchelte. Hilflos suchte sie Halt. Gerade noch rechtzeitig griffen die beiden Beamten ihr unter die Arme. Sie wäre sonst mit Sicherheit zu Boden gefallen. Hastig, fast schon mechanisch zog sie ihren Mantel vom Kleiderhaken, warf ihn sich über und stürmte aus dem Haus. Während die Tränen in ihre Augen schossen. Ihre Gedanken, jagten, wie wilde Hunde balgend, durch ihr Hirn. Sie überschlugen sich im Zeitraffertempo. Tausend Szenarien stürzten wie tosende Unwetter auf sie ein.
Der Chefarzt der Intensivstation empfing sie mit professionellem Bedauern im Gesicht. Stephanie ahnte Schreckliches. Sie hoffte verzweifelt auf einen Irrtum. „Frau du Bois, es tut mir leid, wir konnten nichts mehr für ihren Mann tun.“, sagte der Arzt, während er ihre eiskalte Hand zur Begrüßung zu fest drückte.
Die Tage und Wochen danach erlebte Stephanie wie in Trance. Die Trauerfeier organisierte ihre Mutter. Die Geschäfte übernahm der Vater, bis ein Prokurist eingesetzt war. Selbst ihr Bruder kümmerte sich um sie. Wenn auch nicht uneigennützig.

„Alles vorbei, alles sinnlos, alles aus.“. Das waren die einzigen Gedanken die Stephanie beschäftigten. „Zu spät, für später.“. Ohne Bedeutung waren ihre Wünsche und Träume für die
Zukunft geworden. Ausradiert, in einem Augenblick der die Unendlichkeit in sich barg. Die Trauer um Bob hielt sie gefangen. Ebenso die Aussichtslosigkeit und die Leere in ihrem Leben. Vielleicht wäre in diesem Augenblick ein Baby ihr einziger Trost gewesen. Doch auch dafür war es nun zu spät.
Das Flugticket in ihrer Hand war die letzte Bindung zur Vergangenheit. Sobald sie das Ende der Gangway erreichte, würde auch die letzte Brücke zu ihrem alten Leben abgebrochen sein. Ein one way Ticket nach Amerika. Sanft drückte sie der Schub beim Start der Maschine in ihren Sitz. Sie atmete tief ein, schloss ihre Augen und flog einer unbekannten Zukunft entgegen. Bereit den Neuanfang zu wagen.

In Jackson Hole hatte Stephanie endlich wieder zu sich gefunden.
Eine kleine Stadt am Rande des Grand Teton Nationalparkes. Die Einwohner leben von den vielen Touristen, die in ihrem Urlaub das Gefühl des Marlboro Mannes, aus der Zigarettenwerbung, spüren wollen. In Jackson Hole atmet man tatsächlich noch den „wilden Westen“. Selten finden sich Orte wo Vergangenheit und Gegenwart so harmonisch ineinander übergehen. Westernromantik pur. Eine Kleinstadt voller Entertainment für den durchreisenden Besucher. Tagesgeschäft für die Einheimischen.
Bereits früh am Morgen reiten unrasierte Cowboys auf dem Rücken ihrer Pferde die Hauptstrasse entlang. Selbst der Sheriff fährt nicht mit dem Auto. Betritt man den Drug Store, glaubt man sich auf einer Zeitreise zu befinden. Im Saloon knarren die hölzernen Schwingtüren und man ist fest davon überzeugt, John Wayne käme in der nächsten Minute herein. Im alten Barber - Shop steht der gefüllte Wasserkrug aus Emaille jederzeit bereit, um nach erfolgter Rasur die Schaumreste aus den geröteten Männergesichtern zu spülen. Die alte Mrs. Miller trägt die Post aus und hat für jeden ein freundliches Wort. Eine idyllische kleine Stadt, wo Jeder Jeden kennt. Gepflegte Vorgärten rahmen die alten Holzhäuser ein. Abends sitzt man auf der Veranda im Schaukelstuhl, und betrachtet den klaren Sternenhimmel. Das Rad der Zeit scheint hier still zu stehen. Am Horizont zeichnen sich die Rocky Mountains schemenhaft ab.
Stephanies kleines Appartement liegt etwas Abseits von der Hauptstrasse. Einfach ausgestattet, nur mit dem Nötigsten. Direkt unter ihrem Wohnbereich ist ein kleiner Laden. Geschmackvoll, jedoch sparsam, hat sie ihn eingerichtet. Hier bietet sie ihre Aquarelle und Ölbilder zum Verkauf an. Seit sie in Jackson Hole lebt, hat sie ihre Leidenschaft zur Malerei neu entdeckt. Oft ist sie Tage lang in der Umgebung unterwegs, auf der Suche nach geeigneten Motiven. Sie vergisst beim malen Zeit und Raum. Manchmal verliert sie sich regelrecht in ihren Bildern. Die Ruhe und Schönheit der rauen Wildnis halten sie in atemloser Gefangenschaft. Faszinierende Landschaftsbilder entstehen bei diesen Ausflügen. So voller Kraft und Ausdruck, voller Lebendigkeit und Farben. Jedoch kann der Betrachter auch eine Spur von Sehnsucht und Rastlosigkeit darin gespiegelt sehen.
Freunde hatten ihr bereits vor Jahren geraten, die Bilder zum Verkauf anzubieten. Zunächst fiel es ihr schwer sich von ihnen zu trennen. Doch im Lauf der Zeit hatte Stephanie gelernt, einmal mehr Abschied von ihren Werken zu nehmen. Allerdings sah sie ihren Kunden bei jedem Verkauf direkt in die Augen. Und nur dann, wenn sie darin diesen Funken an Begeisterung entdecken konnte, den sie selbst tief in sich verspürte, nur dann überließ sie ihre Bilder guten Gewissens dem Käufer. Sie ist inzwischen eine gefragte Künstlerin geworden, ein Geheimtipp für Kenner der Kunstszene. Galerien in Salt Lake City und Helena haben bereits einige ihrer Bilder angekauft.
Erst kurz vor Weihnachten bekam sie einen Anruf von Harrison Ford. Er lebt auf seiner Ranch ganz in der Nähe von Jackson Hole und interessiert sich ebenfalls für zwei ihrer Aquarelle.
Stephanie schmunzelt bei dem Gedanken an das Telefonat. Sie war vollkommen unvorbereitet und sehr erschrocken, als Harrison sich meldete. Wenn er auch nur geahnt hätte, wie sehr sie für ihn und seine Filme schon als Teenager geschwärmt hatte. Sie konnte die vielen Stunden kaum zählen, die sie allein seinetwegen im Kino verbrachte. Ja, sie war damals mit Sicherheit sogar ein wenig verliebt in Han Solo und Indiana Jones. Zum Glück würde er dies nie erfahren. Es wäre ihr heute ziemlich peinlich. Aber sie bekam immer noch eine Gänsehaut wenn sie sich zurückerinnerte.
Das schrillen des Telefons riss Stephanie aus ihren Gedanken. Wer wollte ausgerechnet heute am frühen Silvesterabend etwas von ihr? War nicht ganz Jackson Hole schon auf der großen Party? Die Vorbereitungen dafür hatten bereits im September begonnen.
„Du Bois“, meldete sich Stephanie etwas mürrisch. Am anderen Ende der Leitung blieb es einen Moment lang still. Schon wollte sie den Telefonhörer auf legen, da hörte sie ein ebenso besorgtes wie knappes „Doc Baker am Apparat“. In diesem Moment atmete Stephanie tief durch. Mit allem hatte sie gerechnet, einem Anruf aus Deutschland von ihren Eltern oder ihrem Bruder. Einem Rückruf der Galeristin aus Salt Lake City, die ihr letzte Vorschläge für die Vernissage im Januar unterbreiten würde. Nun konnte sie ihre Unruhe kaum unterdrücken. „Hallo Doc, was gibt es noch
so dringendes im alten Jahr?“. Sie bemühte sich, ihre Fassung zu bewahren. Doch es gelang ihr nur sehr unzureichend.
Wie sehr hatte sie nach dem letzten Besuch in seiner Sprechstunde gehofft, er möge ihr das Untersuchungsergebnis erst im neuen Jahr mitteilen. Sie hatte Angst. Angst seit dem Augenblick, als sie unter der Dusche stand und diese Schwellung ertasten konnte. Links, direkt unter der Achsel. Zunächst konnte und wollte sie nicht wahr haben, was sie da erfühlte. Ja, sie hatte viel gelesen über Früherkennung und moderne Behandlung von Brustkrebs. Sie wusste, dass die Chancen bei rechtzeitiger Entdeckung recht hoch waren, den Krebs zu bekämpfen. Sie hatte ihn schon einmal erfolgreich besiegt. Doch nun, als sie Doc Bakers Stimme hörte, waren alle ihre Gedanken überdeckt von dieser schrecklichen, erneut aufkeimenden Angst.
Doktor Baker bat Stephanie noch heute zu ihm in die Praxis zu kommen. „Es ist wirklich sehr dringend“, sagte er. „O.k.“, antwortete sie. Was hätte sie auch sagen sollen? Was hätte sie fragen können? In diesem Moment war nichts mehr so, wie es gerade eben noch schien. Mit diesem Anruf hatte sich ihr Leben erneut verändert. Sie fühlte es und gleichzeitig fühlte sie nichts als eine große Leere. Sie dachte nichts und ahnte doch alles. Losgelöst von allem was sie umgab starrte sie wie gebannt auf das Bild von Bob, vor ihr auf der alten Kommode. Doch sie sah absolut nichts. Während der Doktor den Hörer längst aufgelegt hatte, stand Stephanie wie erstarrt mitten im Zimmer. Gelähmt vor Angst. Sie bemerkte nicht einmal die heißen Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
Als sich ihre Erstarrung löste ging sie in Richtung der Kommode. Sie nahm das Bild von Bob in beide Hände, zupfte mit zitternden Händen den Trauerflor gerade und versank in ihrer Vergangenheit. Alte Erinnerungen wurden hervor gespült. Sie sah den Park in dem sie Bob zum ersten Mal begegnete, hörte seine Stimme. Spürte den ersten zärtlichen Kuss. Gerade jetzt, in diesem Moment war er ihr so nahe, wie seit Jahren schon nicht mehr. Gemeinsam hatten sie damals ihre Krankheit besiegt. Sie war Bob dafür unendlich dankbar. Der Wind schlug den Fensterladen gegen die Hauswand. Dieses Geräusch ließ sie zurückkehren in das Hier und Jetzt. Seufzend nahm sie ihre dicke Jacke vom Garderobenhaken und zog die Tür kraftlos hinter sich zu, als sie ihr Appartement verließ.
Der Abend war von kristallklarer eisiger Kälte. Sie hoffte ihr alter Dodge würde sie nicht ausgerechnet jetzt im Stich lassen. Gleich im neuen Jahr wollte sie ihn in die Werkstatt bringen. Jack würde sicher versuchen ihr das alte Gefährt auszureden und sie dazu überreden, sich endlich ein neues Auto zu kaufen. Doch wozu? Der Wagen war ihr ans Herz gewachsen, so wie alles hier in Jackson Hole. Ihr ganzes neues Leben.
Der Frost knisterte in der Benzinleitung. Er benagte sie, wie ein alterschwacher Biber, den jungen Baum. Stephanie rieb sich die Kälte aus den Händen, hauchte ihnen Leben ein und versuchte minutenlang das Fahrzeug zu starten. Endlich, aufjaulend wie ein junger Wolf, sprang der Wagen an. Ächzte alterschwach, als ob man ihn aus seinem Dornröschenschlaf unsanft geweckt hätte. Erleichtert atmete sie auf und fuhr los. Menschenleer war die Stadt um diese Zeit. Die Silvesterparty war bereits seit zwei Stunden in vollem Gang. Die Holzhäuser hatten dicke Pudelmützen aus Schnee auf ihren Dächern. Stephanie glaubte das Knarren der Balken deutlich hören zu können. Natürlich war das vollkommener Unsinn. Denn alles was zu hören war, war das Klappern im Getriebe des Dodge. Doc Baker wohnte einige Meilen vor der Stadt. Um diese Zeit, war es ein ziemlich beschwerlicher Weg zu ihm hinauf. Die Strasse war unbeleuchtet und vom Schnee fast vollkommen zugeweht.
Dafür hatte der alte Doktor die schönste Aussicht aus dem Fenster seiner Praxis. Direkt auf die Silhouette des Grand Teton konnte man blicken. Majestätisch erhob er sich unter dem klaren Himmel. Stephanie liebte das Bergmassiv. Während sie die Strasse entlang fuhr, erinnerte sie sich an die alte Zeitung aus dem Stadtarchiv in Jackson Hole. Darin hatte sie gelesen, dass französische Pioniere beim Anblick der Berge sofort an weibliche Brüste dachten. Da das Wort Brüste im französischen mit „teton“ übersetzt wird, bedurfte es nicht viel Phantasie um zu erahnen wie das Gebirge letztendlich zu seinem Namen kam. Eigentlich hätte sie von allein darauf kommen können, waren doch auch ihre eigenen Vorfahren Franzosen. „Grand Teton“, dachte Stephanie und Bitterkeit überrollte sie. Im Moment wäre ihr schon geholfen, wenn ihre Brüste gesund wären. Groß müssen sie deshalb nicht sein. Denn eigentlich war sie zufrieden mit dem, was die Natur ihr mitgegeben hatte. Sie zwang sich zur Ruhe und bemühte sich, die Gedanken an Chemotherapie, Bestrahlungen, ausgehende Haare und tagelange Übelkeit zu vertreiben.
Sie wusste was sie erwartete, doch würde sie den Kampf erneut gewinnen? All die Tortouren, alle Höhen und Tiefen. Wochen und Monate der Ungewissheit. Bob war nicht mehr an ihrer Seite. Er fehlte ihr auch ohne diese schreckliche Krankheit sehr. Wie sollte sie dies alles allein bewältigen?

Als sie die Einfahrt zu Doc Bakers Haus entlang fuhr, glaubte sie Bob’s Gestalt zu sehen, der ihr aufmunternd zu lächelte. Hastig wischte sie sich über die Augen, strich sich eine Strähne ihres
dunkel braunen Haares aus dem Gesicht. Als sie in den Rückspiegel blickte, war nichts zu sehen. Kein Schatten, keine Gestalt und schon gar nicht Bob. Ihre Nerven schienen ihr einen Streich gespielt zu haben. Sie dachte nicht weiter darüber nach. Sie parkte den Dodge etwas abseits vorm Haus und stieg langsam aus. Auf der Treppe drehte sich Stephanie noch einmal um, blickte zum Himmel der von Sternen übersät war. „Wenn du dort oben tatsächlich über mich wachst, gib mir die Kraft, dies alles zu überstehen.“ murmelte sie leise vor sich hin, während sie den Schnee von ihren Stiefeln abschüttelte. Der alte Doc Baker öffnete die Tür noch bevor sie klopfen konnte. Herzlich bat er sie herein und nahm ihr die Jacke ab. Das Teewasser brodelte im Kessel, während er die klobigen Teepötte aus dem Schrank holte. Stephanie nahm erwartungsvoll im Praxiszimmer Platz. Als er sich ebenfalls, in seinem alten Ledersessel, ihr gegenüber zu recht gesetzt hatte, wurde die Ungewissheit für Stephanie unerträglich. Fest sah sie ihn an, nun auf das Schlimmste gefasst. Der Doktor blätterte in seinen bereitgelegten Unterlagen, rieb sich das unrasierte Kinn, schloss das Krankenblatt und legte es zurück in die Schublade des alten wurmstichigen Schreibtisches.
Vorsichtig hob er die Tasse aus welcher der Tee heiß herausdampfte, nahm einen bedächtigen Schluck, bevor er zu ihr aufsah. „Kindchen, ich hoffe ich habe dich nicht zu sehr erschreckt“, sagte er. „Oh doch, das hast du. Du glaubst gar nicht wie.“, dachte Stephanie voller Ungeduld. Sie versuchte ein unsicheres Lächeln und antwortete: „Doc, was ist los mit mir? Ist es das, was ich vermute?“. Stephanie hatte Mühe ihre Tränen zu unterdrücken. Am liebsten hätte sie ihm die Antwort auf ihre Ungewissheit aus dem Leib geschüttelt. Sie rang um Beherrschung. „Kindchen“, so sprach Doc. Baker weiter, „ich wollte dich nicht erschrecken“. Doch als die Laborberichte heute am frühen Morgen aus Helena kamen, hielt ich es für angebracht, dich nicht im Unklaren in das neue Jahr zu entlassen.“ Stephanies Hände krampften ineinander. „Herrgott noch mal, so rede doch endlich.“, hämmerte es in ihrem Schädel. Ob sich der Doktor im Klaren darüber war, wie es ihr im Moment ging? Sicherlich nicht, sonst hätte er sich mit seinen Worten nicht so viel Zeit gelassen. „Also, meine Liebe, die Testergebnisse sehen sehr gut aus. Die Schwellung unter der Achsel ist eine harmlose Entzündung. Womöglich hast du dich etwas zu sehr überanstrengt beim renovieren deines Appartements. Kein Grund zur Besorgnis.“
Stephanie konnte kaum fassen, was sie da gerade hörte. Eine Welle von Dankbarkeit durchströmte ihren Körper. Alle Anspannung viel von ihr ab. Am liebsten wäre sie dem alten Doc vor Freude um den Hals gefallen. Sie atmete erleichtert auf. „Danke, du da oben. Wer immer du sein magst. Wo immer du auch bist. Ich danke dir!“. Einem Stoßgebet gleich flogen diese Sätze durch ihren Kopf. Nein, eigentlich war sie kein religiöser Mensch. Sie hatte ihren Glauben viel zu oft auf harte Proben stellen müssen, nahe der Verzweiflung. Doch irgendetwas da draußen in der Unendlichkeit, irgendwer schien über sie zu wachen. Davon war sie nun fest überzeugt. Es war ihr im Moment egal ob es Bob war, man von einem Gott sprechen konnte, oder vom Geist der Silvesternacht. Sie wusste es selbst nicht genau, doch sie fühlte sich behütet und stark wie selten zu vor.
Als sie sich vom alten Baker verabschiedete, rückte das neue Jahr immer näher. Sie wünschte ihm alles Gute und drückte ihm fest die Hand. Es war bereits nach 23:00Uhr und ihr alter Dodge hustete die Strasse entlang. Bevor sie die Stadtgrenze erreichte blickte sie nach links in die Nacht, in die Richtung der Ranch von Harrison. Auch ihm wünschte sie still ein erfolgreiches neues Jahr. Kurz vor Mitternacht erreichte sie ihr Appartement. Das Feuer im Kamin knisterte leise, ihr Tannenbaum strahlte im Licht der Kerzen. Sie ging in ihre Küche um eine Flasche Wein zu öffnen. Während sie den schweren Rotwein in einen alten Kelch goss ging sie an ihren Schreibtisch. Stephanie öffnete die Schublade und zog ihr Tagebuch heraus. Lange hatte sie ihm nichts mehr anvertraut. Wenn sie es recht überlegte, endeten ihre Aufzeichnungen mit dem Ausbruch ihrer Erkrankung vor mehr als 13 Jahren. Doch heute musste sie ihm noch einige letzte Worte hinzufügen, bevor das alte Jahr zu Ende geht.

Sinnlos
Haare fallen,
doch nicht von der Schere Schnitt.
Haut verbrennt,
doch nicht von der Sonne Glut.
Allmorgendliche Übelkeit,
doch nicht von der Frucht des Leibes.
Medikamente verzehrend,
doch nicht um zu Gesunden.
Trotz allem – Sterben.
(Sommer 1991)

Sie strich den letzten Satz aus und schrieb darunter:

„Trotz allem – Leben.“
(Silvester 2004)

Während es von der Kirchturmuhr Mitternacht schlug, und Stephanie ihr Tagebuch schloss, blickte sie hinaus aus dem Fenster, in die Neujahrsnacht. Sie erhob ihr Weinglas und prostete stumm ihrem Spiegelbild zu. Als sie sich vom Fenster abwandte fiel ihr Blick auf die alte Kommode. Genau dort hin wo Bob’s Bild stand. Es war, als lächelte er ihr ebenfalls zu, um ihr ein wunderschönes und vor allem gesundes neues Jahr zu wünschen.

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Unerwartet

Letzte Woche geschah es, unerwartet, wie oft im Leben.

"Langsam beginnt meine Vergangenheit zu sterben."
Dieser Satz durchzuckte meine Gedanken als ich die Nachricht hörte. Wie ein Blitz welcher den Grau schimmernden Nachthimmel zerreißt, so zerriss mein Tag.
Weshalb sich gerade die kurz gedachten Worte an mir fest bissen wie nagende Ratten, die Antwort blieb ich mir schuldig. Eiskalt lief es meinen Rücken hinab, breitete sich aus, jenes unangenehme Gefühl. Ein Schuldgefühl?
Ich kannte ihn, wenn auch im Verlauf der Zeit nur noch flüchtig. Früher kannte ich ihn besser. Zuletzt telefonierten wir nur noch einmal im Jahr miteinander, nahmen uns vor, uns bei Gelegenheit einmal wieder zu treffen um über alte Zeiten zu plaudern. Dabei blieb es.

Meine Versuche den telefonischen Kontakt zu erhalten, erfolglos. Nur seine Mailbox nahm meine Anrufe entgegen. Gewundert hat es mich nicht. Er reiste viel, beruflich. Die ganze Welt hatte er inzwischen gesehen. Dank seiner Kunst, den flüchtigen Augenblick mit einer Kamera zu bannen, ließ er nicht nur mich daran teilhaben.

Durch einen Zufall erfuhr ich von seinem Tod, zwei Jahre zu spät. Er wurde nicht alt und es wird kein „bei Gelegenheit“ mehr geben, schade.
Alles was von ihm bleibt sind Bücher, bebildert mit den Fotos seiner Reisen, Fotos von Menschen die sein Leben kreuzten, nur Momentaufnahmen. Ob es sie noch gibt, diese Menschen? Ob sie sich an ihn erinnern, so wie ich es tue? Welche Schicksale ereilten sie? Welchen Weg haben sie genommen, nach der Begegnung mit ihm?

Woran er starb? Ich weiß es nicht. War es ein einsamer Tod? Vermutlich. Kein Grab zeugt von seiner Anwesenheit auf dieser Welt, nur ein anonymes Stück grüner Wiese. Irgendwo auf einem Friedhof in München.

Seit Tagen beschäftigt mich eine Frage. Wenn Freunde sterben - stirbt ein Stück gemeinsame Vergangenheit. Wenn meine Mutter stirbt – stirbt dann meine Kindheit? Wenn ich sterbe - was bleibt von mir zurück?

Warum beschäftigen wir uns erst dann wieder intensiver miteinander, wenn es bereits zu spät ist?

P.S. Mein Freund, ich bin froh dich kennengelernt zu haben. Auf Wiedersehen.

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Der Tod ist eine weiße Taube (Zeitschrift Kurzgeschichten 08/2005)

Es wird behauptet ich wäre knöchern und alt, böse und kalt. Furcht einflößend und bedrohlich für Generationen. Mich schweigend aus dem Leben zu verbannen, scheint der Menschheit die einzige Alternative auf dem Weg zu ihrer verzweifelt ersehnten Unsterblichkeit.
Meine Bedeutsamkeit für den Einzelnen kann unterschiedlicher nicht sein. Letztendlich bin und bleibe ich doch unverkennbar.

Die Reise zu dir hat vor langer Zeit schon begonnen. Der laue Abendwind atmet sanft in mein Gefieder. Er fängt sich in meinen weiten, Welt umspannenden Schwingen, trägt mich empor. Über mir nur der Horizont, grenzenlos und weit.
Vom höchsten Gipfel der Erde bis zum Mittelpunkt der Welt kann ich sehen. Das allerletzte Geheimnis offenbart sich tatsächlich nur mir, denn mein Blick reicht bis tief in menschliche Herzen. Ich erkenne die brennenden Qualen jeder einzelnen Seele. Vom Augenblick ihrer Geburt bin ich an der Seite der Menschheit, begleite sie bis zu ihrem letzten Atemzug. Allzeit bereit, denn mein ist die Welt.

Während sich der Tag dem Ende neigt und die Geschäftigkeit träge zu werden beginnt, sitze ich hier in diesem Zimmer, bei dir. Deine schwächer werdenden Sinne nehmen mich nur schemenhaft wahr. Ich frage dich ein letztes Mal: „Was darf ich für dich sein, in diesem Moment?“ Obwohl ich es doch weiß, denn du hast deine Wahl getroffen, als dein Verstand noch klar war.
Wir kennen uns seit langem, sind uns oft schmerzhaft begegnet. Unsere Wege gleichen einem verschlungenen Pfad, dessen Ende unabänderlich vorbestimmt ist. Dein ganzes Leben lang beobachtete ich dich aus respektvoller Entfernung. Es ist, als stünde die Zeit gerade in diesem Augenblick nur für uns still. Nur das surrende Geräusch des Ventilators neben deinem Bett durchsticht die Lautlosigkeit. Stunde um Stunde wache ich bereits an deiner Seite, kühle deine fiebrige Stirn, benetze deine spröden Lippen mit erquickendem Nass, sorge mich um deinen Frieden. Ich streife dir das ergraute Haar noch einmal aus der Stirn, berühre dabei zaghaft deine eingefallenen Wangen. Deine geschlossenen Lider zucken, während der Film des Lebens in farbigen Bildern lautlos an dir vorüberzieht. Du ahnst bereits meine Nähe, und doch ängstigt sie dich nicht mehr.
Du kannst ihn nicht hören, den auf- und abschwellenden Ton der dich am Leben haltenden Maschine. Periodisch kehrt er wieder, um kurz darauf zu verhallen. Du spürst nicht die Schläuche, durch die dein geschundener Körper künstlich versorgt wird. Diese letzte Bindung, die dich noch mit dem Leben verknüpft, einem seidenen Faden gleich.

Folge mir für den Wimpernschlag eines vergehenden Augenblickes bis in die Ewigkeit. Fein gesponnene Erinnerung hüllt dich ein wie eine wärmende Decke. Wir wandern gemeinsam über den schmalen Pfad, entlang deines Hauses in Richtung See.
Seit Beginn deines Seins ist dies dein Lieblingsplatz. An keinem anderen Ort warst du glücklicher oder einsamer als hier. Das Gras zu unseren Füßen ist mit Tau bedeckt, einem Teppich aus Diamanten gleich. Dein Gang ist unbeschwert, du spürst keinen Schmerz. Suchend blickst du die Straße entlang und ahnst doch deinen Weg, mehr als du ihn kennst. Warme Sonnenstrahlen schmeicheln deinem Gesicht, ohne es zu verbrennen. Ein Windhauch verfängt sich in deinem Haar, legt es verspielt um deine Schultern. Dort, sieh nur! Lächelnd winkt dir der Mann, den du liebtest zu. Er kommt näher. Du spürst seine Hand, so wie damals, als er dich zum ersten Mal zart berührte. Sein Kuss lässt dein Herz schneller schlagen. Wie groß deine Sehnsucht nach ihm ist, selbst jetzt! Viel zu kurz war die euch gemeinsam geschenkte Zeit. Deine Tränen behieltest du für dich, als er vor Jahren von dir ging. Kein einziger Laut der Klage drang über deine Lippen.
Nun droht er abermals zu entschwinden, zerfließend wie schmelzender Schnee entgleitet er deinem Blick. Lass ihn los! Bleibt er für dich doch immer unvergessen. Halte nicht an, schau dich nicht um, geh einfach weiter!
Siehst du dort - das Kind? Lachend fliegt es auf seiner Schaukel den Wolken entgegen. Immer höher und höher. Erkennst du es? Ja, geh zu ihm. Die Kleine sehnt sich danach. Nur einen winzigen Moment durftest du deine Tochter in den Armen halten, sie mit deiner mütterlichen Liebe umgeben, für sie sorgen. Einen atemlosen Augenblick mit ihr gemeinsam auf der Straße des Lebens gehen. Dann war ihr junges Leben beendet, viel zu schnell und unerwartet. Noch immer spürst du den Druck ihrer kleinen Finger in den Innenflächen deiner Hände. Du trägst keine Schuld. Niemand hätte es verhindern können. Ihre Zeit war gekommen, viel eher als die deine. Hörst du das Lied, das dir deine Mutter immer vor dem Einschlafen sang? Genau wie damals dringt es nun an dein Ohr. Mit melodischem Klang in ihrer Stimme verströmte sie ihre Liebe, verschenkte sie an dich. Sie gibt dir immer noch Geborgenheit, so wie früher. Erinnerst du dich? Geh, geh unbesorgt darauf zu! Sieh nur, ihr Lächeln. Es wärmt dich. Wie lange hast du darauf verzichten müssen? Oft hast du es dir in deinen Erinnerungen vorgestellt.
Erschrick nicht! Der Mann dort wird dir nichts tun, nicht mehr. Er bereut längst, was er dir angetan hat, als du ihn noch „Vater“ nanntest. Vergib ihm! Ihr habt beide genug gelitten. Jeder sein eigenes Leben lang. Er weiß es inzwischen, darum nimm seine Hand als Geste der Versöhnung. Dann wird auch er beruhigt weiterziehen können.
Komm, es ist nun nicht mehr weit. Fast sind wir am Ziel. Nur einen Moment noch.

Der See liegt in kupfernem Abendrot. Schau, wie friedlich es hier ist. Sanft kräuselt sich das Wasser, bricht sich an seinen weiten Ufern. Es umspült deine nackten Füße. Deine Hand taucht hinab, um nach vergangenen Träumen zu greifen. Eine angenehme Schwerelosigkeit umgibt dich. Bist du bereit? Die untergehende Sonne weist mit ihren Strahlen den Weg. Es ist dein Weg!
Lass deine Traurigkeit zurück und werde frei. Breite deine Arme aus, reiche mir deine Hand und fliege mit mir. Leicht wie eine Feder im Wind.

Gleich bleibend die Frequenz der Herz-Lungen-Maschine. Unbemerkt von den Lebenden erheben sich zwei weiße Tauben vom Fenstersims empor in die Lüfte, um in den Wolken, allem Weltlichen entrückt, zu tanzen.

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Last update: 18.09.13, 12:00

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