Der Tod ist eine weiße Taube (Zeitschrift Kurzgeschichten 08/2005)

Es wird behauptet ich wäre knöchern und alt, böse und kalt. Furcht einflößend und bedrohlich für Generationen. Mich schweigend aus dem Leben zu verbannen, scheint der Menschheit die einzige Alternative auf dem Weg zu ihrer verzweifelt ersehnten Unsterblichkeit.
Meine Bedeutsamkeit für den Einzelnen kann unterschiedlicher nicht sein. Letztendlich bin und bleibe ich doch unverkennbar.

Die Reise zu dir hat vor langer Zeit schon begonnen. Der laue Abendwind atmet sanft in mein Gefieder. Er fängt sich in meinen weiten, Welt umspannenden Schwingen, trägt mich empor. Über mir nur der Horizont, grenzenlos und weit.
Vom höchsten Gipfel der Erde bis zum Mittelpunkt der Welt kann ich sehen. Das allerletzte Geheimnis offenbart sich tatsächlich nur mir, denn mein Blick reicht bis tief in menschliche Herzen. Ich erkenne die brennenden Qualen jeder einzelnen Seele. Vom Augenblick ihrer Geburt bin ich an der Seite der Menschheit, begleite sie bis zu ihrem letzten Atemzug. Allzeit bereit, denn mein ist die Welt.

Während sich der Tag dem Ende neigt und die Geschäftigkeit träge zu werden beginnt, sitze ich hier in diesem Zimmer, bei dir. Deine schwächer werdenden Sinne nehmen mich nur schemenhaft wahr. Ich frage dich ein letztes Mal: „Was darf ich für dich sein, in diesem Moment?“ Obwohl ich es doch weiß, denn du hast deine Wahl getroffen, als dein Verstand noch klar war.
Wir kennen uns seit langem, sind uns oft schmerzhaft begegnet. Unsere Wege gleichen einem verschlungenen Pfad, dessen Ende unabänderlich vorbestimmt ist. Dein ganzes Leben lang beobachtete ich dich aus respektvoller Entfernung. Es ist, als stünde die Zeit gerade in diesem Augenblick nur für uns still. Nur das surrende Geräusch des Ventilators neben deinem Bett durchsticht die Lautlosigkeit. Stunde um Stunde wache ich bereits an deiner Seite, kühle deine fiebrige Stirn, benetze deine spröden Lippen mit erquickendem Nass, sorge mich um deinen Frieden. Ich streife dir das ergraute Haar noch einmal aus der Stirn, berühre dabei zaghaft deine eingefallenen Wangen. Deine geschlossenen Lider zucken, während der Film des Lebens in farbigen Bildern lautlos an dir vorüberzieht. Du ahnst bereits meine Nähe, und doch ängstigt sie dich nicht mehr.
Du kannst ihn nicht hören, den auf- und abschwellenden Ton der dich am Leben haltenden Maschine. Periodisch kehrt er wieder, um kurz darauf zu verhallen. Du spürst nicht die Schläuche, durch die dein geschundener Körper künstlich versorgt wird. Diese letzte Bindung, die dich noch mit dem Leben verknüpft, einem seidenen Faden gleich.

Folge mir für den Wimpernschlag eines vergehenden Augenblickes bis in die Ewigkeit. Fein gesponnene Erinnerung hüllt dich ein wie eine wärmende Decke. Wir wandern gemeinsam über den schmalen Pfad, entlang deines Hauses in Richtung See.
Seit Beginn deines Seins ist dies dein Lieblingsplatz. An keinem anderen Ort warst du glücklicher oder einsamer als hier. Das Gras zu unseren Füßen ist mit Tau bedeckt, einem Teppich aus Diamanten gleich. Dein Gang ist unbeschwert, du spürst keinen Schmerz. Suchend blickst du die Straße entlang und ahnst doch deinen Weg, mehr als du ihn kennst. Warme Sonnenstrahlen schmeicheln deinem Gesicht, ohne es zu verbrennen. Ein Windhauch verfängt sich in deinem Haar, legt es verspielt um deine Schultern. Dort, sieh nur! Lächelnd winkt dir der Mann, den du liebtest zu. Er kommt näher. Du spürst seine Hand, so wie damals, als er dich zum ersten Mal zart berührte. Sein Kuss lässt dein Herz schneller schlagen. Wie groß deine Sehnsucht nach ihm ist, selbst jetzt! Viel zu kurz war die euch gemeinsam geschenkte Zeit. Deine Tränen behieltest du für dich, als er vor Jahren von dir ging. Kein einziger Laut der Klage drang über deine Lippen.
Nun droht er abermals zu entschwinden, zerfließend wie schmelzender Schnee entgleitet er deinem Blick. Lass ihn los! Bleibt er für dich doch immer unvergessen. Halte nicht an, schau dich nicht um, geh einfach weiter!
Siehst du dort - das Kind? Lachend fliegt es auf seiner Schaukel den Wolken entgegen. Immer höher und höher. Erkennst du es? Ja, geh zu ihm. Die Kleine sehnt sich danach. Nur einen winzigen Moment durftest du deine Tochter in den Armen halten, sie mit deiner mütterlichen Liebe umgeben, für sie sorgen. Einen atemlosen Augenblick mit ihr gemeinsam auf der Straße des Lebens gehen. Dann war ihr junges Leben beendet, viel zu schnell und unerwartet. Noch immer spürst du den Druck ihrer kleinen Finger in den Innenflächen deiner Hände. Du trägst keine Schuld. Niemand hätte es verhindern können. Ihre Zeit war gekommen, viel eher als die deine. Hörst du das Lied, das dir deine Mutter immer vor dem Einschlafen sang? Genau wie damals dringt es nun an dein Ohr. Mit melodischem Klang in ihrer Stimme verströmte sie ihre Liebe, verschenkte sie an dich. Sie gibt dir immer noch Geborgenheit, so wie früher. Erinnerst du dich? Geh, geh unbesorgt darauf zu! Sieh nur, ihr Lächeln. Es wärmt dich. Wie lange hast du darauf verzichten müssen? Oft hast du es dir in deinen Erinnerungen vorgestellt.
Erschrick nicht! Der Mann dort wird dir nichts tun, nicht mehr. Er bereut längst, was er dir angetan hat, als du ihn noch „Vater“ nanntest. Vergib ihm! Ihr habt beide genug gelitten. Jeder sein eigenes Leben lang. Er weiß es inzwischen, darum nimm seine Hand als Geste der Versöhnung. Dann wird auch er beruhigt weiterziehen können.
Komm, es ist nun nicht mehr weit. Fast sind wir am Ziel. Nur einen Moment noch.

Der See liegt in kupfernem Abendrot. Schau, wie friedlich es hier ist. Sanft kräuselt sich das Wasser, bricht sich an seinen weiten Ufern. Es umspült deine nackten Füße. Deine Hand taucht hinab, um nach vergangenen Träumen zu greifen. Eine angenehme Schwerelosigkeit umgibt dich. Bist du bereit? Die untergehende Sonne weist mit ihren Strahlen den Weg. Es ist dein Weg!
Lass deine Traurigkeit zurück und werde frei. Breite deine Arme aus, reiche mir deine Hand und fliege mit mir. Leicht wie eine Feder im Wind.

Gleich bleibend die Frequenz der Herz-Lungen-Maschine. Unbemerkt von den Lebenden erheben sich zwei weiße Tauben vom Fenstersims empor in die Lüfte, um in den Wolken, allem Weltlichen entrückt, zu tanzen.

      

 

Last update: 18.09.13, 12:00

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