sorceress2001
11:49h
Geschirrspülgedanken (Sie wissen, was ich meine) Morgens wird es früher hell, abends später dunkel. Für keinen etwas neues doch von allen herbei gesehnt, so auch von mir. Es scheint als würde das Leben täglich bunter, die Strassen belebter, die Gesichter freundlicher. Manchmal scheint es jedoch nur so. Gestern, unweit eines Discounters, gerade als ich mich um einen Einkaufswagen bemühen wollte, höre ich es grölen: ''Ey Du! Gemma abbaiten!'' ... dann lautes Gejohle. Erschrocken fahre ich herum und mein Blick fällt auf eine Horde Kinder, die sich einen Ball zu kickten, während sie eine alte Dame umringten. Kinder! Ich betone es ausdrücklich - nicht Jugendliche, nicht junge Erwachsene - Kinder zwischen neun und zwölf Jahre alt. Die alte Dame zuckte kurz zusammen, dann beugte sie sich über den nächsten Papierkorb und begann darin herum zu wühlen. In der linken Hand hielt sie einen Beutel aus dem ein paar Pfandflaschen heraus ragten, mit der rechten Hand wühlte sie, ihr Blick nach unten gerichtet, ihr Rücken gebeugt. Die Kinder lachten, johlten als der Ball die Frau an ihren Waden traf. Unbeirrt wühlte sie weiter. Menschen gingen vorbei, hörten, sahen - schauten betreten weg. Mir schossen die Tränen in die Augen, meine Hand ballte sich ruckartig zur Faust. Die ältere Dame war längst zum nächsten Abfallbehälter geschlurft, ob sie wahr nahm was da um sie herum passierte? Vermutlich. Ob es sie kränkte? Vermutlich. Ob sie eine Wahl hat und den Herbst ihres Lebens anders, schöner verbringen könnte als in Abfalltonnen herum zu wühlen und sich beschimpfen zu lassen? Vermutlich nicht. Ein dreister Bengel entfernte sich etwas von der Kinderschar, baute sich seitlich neben der Frau auf, grinste ihr frech ins Gesicht und - spukte aus. Die anderen Kinder fanden das toll und applaudierten. Mir reichte es in diesem Moment. Ich eilte auf die Gruppe zu, noch bevor ich sie erreichte stoben sie auseinander und blieben in vermeintlicher Sicherheit immer noch grinsend stehen. Vielleicht fühlten sie sich als Helden - ich fühlte Zorn. Ein Rudel junger Wölfe, die sich an einem schwächeren Tier vergriffen. Dieses Bild hatte ich vor meinem inneren Auge. Aber es sind die Kinder von jemandem, die Enkel von jemandem - so wie die alte Frau die Mutter von jemandem ist und die Großmutter. Als ich neben der Frau stand, seufzte sie kurz und murmelte - ''Es sind ja noch Kinder.'' - dann ging sie um ihre Flaschen im Discounter zu ein paar Cent zu machen. Ich blieb zurück. - Es sind ja noch Kinder doch was für Erwachsene werden sie einmal sein - dieser Gedanke ließ mich auf dem Heimweg nicht mehr los.
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sorceress2001
11:48h
... Geschirrspülgedanken ... (Sie wissen, was ich meine) Der Großonkel, geboren 1915, ein ruhiger, besonnener Mann mit stattlicher Körperhöhe. Mein Lieblingsgroßonkel, vielleicht auch allein deshalb, weil ich nur einen Großonkel hatte. Der Großonkel und die Großtante liebten mich, wie ihr eigenes Kind. Sicherlich blieb ihnen auch nichts anderes übrig, denn sie hatten keine eigenen Kinder. Vor dem Krieg waren beide zu jung und nach dem Krieg, war alles anders.
Einmal habe ich sie danach gefragt, warum sie keine Kinder hätten. Beide sahen sich über meinen Kopf hinweg in die Augen, kurz flackerte Trauer auf. Dann holte die Großtante tief Luft, umarmte mich ganz fest und der Großonkel murmelte: ''Es hat sich nicht ergeben.'' Als Kind war ich irgendwie sehr froh darüber, dass ''es sich nicht ergeben'' hat. Heute ahne ich, wie traurig beide darüber gewesen sein mussten, ich verstehe, warum sie sich mir aufmerksam und liebevoll zu wandten und ich bin dankbar dafür. Der Großonkel hatte es mit Sicherheit nicht leicht, er war der einzige Mann in der Familie umgeben von vier Frauen. Da war meine Großtante - seine Frau -, meine Großmutter, meine Mutter und ich. Zu lachen hatte er da wohl selten etwas. Vielleicht blieb er daher oftmals stumm. Fotos habe ich gesehen, da konnte er noch lachen. Das waren Fotos aus der Zeit vor dem Krieg. Der Großonkel war immer darum bemüht, mir den Vater zu ersetzen. Die beiden müssen sich gut verstanden haben, als mein Vater noch lebte. Auch wenn sie sich nur kurz kannten, sie gaben ein gutes Team ab, die zwei. Ich glaube fast, er hat meinem Vater versprechen müssen, auf mich aufzupassen. Vom Großonkel habe ich viel gelernt, er brachte mir viele Dinge bei nur einmal, da versagte er seine Hilfe. Das war an dem Tag als ich meinen ersten Fremdsprachenunterricht in - französisch - hatte. Ich kam heim, ganz begeistert von der ersten Stunde und ich plapperte munter drauf los, vollkommen fasziniert vom Klang dieser Sprache. Er war ganz still, nachdenklich und zog sich zurück. Der Großonkel mochte Frankreich nicht, er war in Marseille, mit einem zerschossenen Fuß. Als der Fuß verheilt war, blieb er in Marseille, wie viele, die er kannte. Tage, Wochen und Monate gingen sie aus einem großen Tor hinaus, wurden bewacht und gingen in das Tor zu einer großen Dattelfabrik hinein um dort zu arbeiten. Über die Arbeit erzählte er nicht viel, obwohl er dort viele Jahre gearbeitet hat - arbeiten musste. Dort wo er in diesen Jahren lebte, gab es wenig zu essen. Die Ratten tanzten nachts auf den Mauern herum, stahlen das wenige Essen. Nur die Graupensuppe, die rührten die Ratten nicht an, die schmeckte ihnen sicher nicht - dem Großonkel auch nicht, denn als er wieder daheim war, aß er nie wieder Graupensuppe, bis zum Lebensende. Doch einmal erzählte er mir, er wäre ein guter Arbeiter gewesen und der Inhaber der Fabrik habe an einem Weihnachtsfest einige Arbeiter eingeladen zum Essen. Das muss kurz vor dem Moment gewesen sein, bevor es für immer nach hause ging. Der Großonkel und die anderen Männer aßen so viel sie nur konnten, sie waren hungrig. Später übergaben sie sich, ihre Mägen waren solche Mengen nicht mehr gewohnt. Dann kam der Großonkel endlich heim, abgemagert und krank. Die Großtante war Jahre ohne ihn, hat auf ihn gewartet und ihn wieder gesund gepflegt. Auch sie mochte Frankreich nie. Es gibt kaum Belege aus dieser Zeit, einige Postkarten, ein Tuch aus Seide und eine kleine, lederne Geldbörse. Darin ein Schein, der die Entlassung bestätigt und das Datum der Heimkehr ausweist. Später habe ich ihn gefragt: ''Warst Du ein Faschist?'' seine Antwort für mich: ''Ich habe niemanden getötet! Ich war Soldat, hätte ich mich geweigert, hätte man mich sofort erschossen.'' Er kam nach hause, mit einem durchschossenen Fuß, abgemagert und krank. Was immer er erlebt hat, hat ihn später in vielen Nächten nicht schlafen lassen. Er war ein ruhiger, stiller Mann. Oft in sich gekehrt, nachdenklich und dabei voller Liebe für mich. ... Er war - mein Großonkel - ... Und - ich liebe Frankreich, habe das Land 1990 besucht, finde die Sprache faszinierend und die Menschen, welche ich kennen lernte, waren freundlich und gut zu mir. Es ist unerheblich, von wem man geliebt wird, so lange man geliebt wird.
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sorceress2001
11:47h
... Geschirrspülgedanken ... (Sie wissen, was ich meine) Die Großmutter, geboren im September 1913. Großmutters rheumatische Finger waren ständig in Bewegung, ihre Hände ruhten nie. Vom ersten Weltkrieg bemerkte sie nicht viel, konnte sich kaum erinnern.
Irgendwie schienen ihre Tage - trotz allem - damals sonnig, bunt und voller Abenteuer. Sie lebte damals mit ihren Eltern unweit ''vom Schacht'' (Bergbau-Hartbraunkohle). Ihr Vater, mein Urgroßvater, war dort Werkmeister. Seine Frau, meine Urgroßmutter, war Hausfrau und kümmerte sich um die Kinder. Wenn die Großmutter von ihrer Kindheit erzählte, saß ich ganz still zu ihren Füßen, meine Lieblingspuppe im Arm - ich hörte ihr aufmerksam zu. Dann kam der zweite Weltkrieg, die Großmutter war inzwischen eine junge Frau. Sie hatte einen Beruf erlernt, hatte geheiratet, meine Mutter wurde geboren - 1935 -. Alle lebten immer noch in der Nähe des Schachtes. Der Urgroßvater war immer noch Werkmeister dort und die Urgroßmutter kümmerte sich nach wie vor um den Haushalt. Eine große Familie, meine Großtante war inzwischen geboren, dass war im März 1924. Zwischen den Geburtsdaten der beiden Schwestern klaffte eine zeitliche Lücke. Da gab es noch eine Schwester, doch sie überlebte nicht lange. Sie starb kurz nach der Geburt an einer Kinderkrankheit. Man erinnerte sich ab und an an sie, doch die beiden Schwestern sprachen nicht gern darüber. Daher blieb in meiner Erinnerung nur das Bild von einem entzückenden Baby mit rosigen Wangen, welches irgendwann fiebernd zum letzten Mal einschlief. In den Jahren des Krieges rückte die Familie noch enger zusammen. Im Schacht arbeiteten nun ''Russen''. Ausgemergelte Männer, unterernährt, fernab von eigenen Familien, behandelt wie Tiere. Einer von ihnen, ein Offizier, der war ein guter Arbeiter. Er sprach deutsch und machte so überhaupt keinen gefährlichen Eindruck, obwohl überall zu hören und zu lesen war, wie gefährlich ''diese Russen'' doch so sind. Sie töten, sie vergewaltigen, sie rauben und wenn es ganz schlimm kommt, fressen sie auch kleine Kinder. Der Urgroßvater hatte seine Arbeiter alle im Blick, auch ''die Russen''. manchmal brachte er einen von ihnen mit ins Haus. Ließ ihn am Tisch platz nehmen, man aß gemeinsam und sprach miteinander. ''Das Monster'' schaukelte meine Mutter auf den Knien, spielte mit ihr und schnitzte aus Holz kleine Spielzeuge. Fast gehörte er schon zur Familie. Gefährlich waren solche Abende für alle. Nicht weil ''der Russe'' ein Monster war - sondern weil man ihn an den Tisch bat, ihm zu essen gab, ihn wie einen Menschen behandelte. Ob diese Gefahr meiner Familie damals bewusst war? Darüber gab die Großmutter keine Auskunft. Als man nach Kriegsende damit begann, die Familie - umzusiedeln - sie durften mitnehmen, was sie tragen konnten und das war nicht viel, denn oftmals blieb kaum Zeit das Nötigste zusammen zu packen, passierte etwas womit niemand gerechnet hatte. Ein letztes Mal stand ''der Russe'' in der Tür. Er verabschiedete sich mit Tränen in den Augen und versprach zu helfen, so gut es nur geht. Immerhin, so sagte er, verdanke er ihnen sein Leben. Er hielt sein Versprechen, verschaffte meinen Urgroßeltern, meiner Großmutter, meiner Mutter und meiner Großtante ein wenig Zeit. Zeit um Habseligkeiten zu ordnen, die nötigsten Vorkehrungen zu treffen bevor sie ihre Heimat verlassen mussten. Er sorgte dafür, dass alle zusammen blieben - als Familie. Das war ihm wichtig und das Mindeste, was er für sie tun konnte. Ein kleines Holzspielzeug behielt meine Mutter über viele Jahre. Den Namen ''des Russen'' erfuhr ich nie. Aber ich glaube, ich habe ihm viel zu verdanken. - Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit -
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Geschirrspülgedanken (Sie wissen, was ich meine)
... also manchmal ja, manchmal bin ich so richtig, richtig, richtig froh, dass mich hier niemand wirklich beobachten kann ...
Nun sitze ich hier, schüttle den Kopf über mich selbst und staune tatsächlich über meine eigene, dann doch wohl, kindliche Naivität.
Warum? Ich werde es Euch verraten, ...
sorceress2001 @ 18.09.13, 12:00
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Geschirrspülgedanken (Sie wissen, was ich meine)
Zwei Fotos + jahrzehntealte Erinnerungen + Assoziationen = Synapsenfasching zur Geisterstunde.
oder
Wie man zur Geisterstunde seinen ganz privaten Horrorfilm sieht.
Der Mensch träumt und das ist normal. Manche erleben in ihren Träumen intensive Gefühle, sehen fabelhafte Bilder, können unglaubliche Dinge tun. Andere träumen und können sich daran ...
sorceress2001 @ 18.09.13, 11:58
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Geschirrspülgedanken (Sie wissen, was ich meine)
Es ist Sonntag und zwar der letzte Sonntag vor der Bundestagswahl 2013. Im Grunde ein Sonntag, wie es viele davor gab und wie es viele danach noch geben wird. Seit geraumer Zeit quälen mich - Glaubensfragen - und dies nicht nur an Sonntagen sondern nahezu ...
sorceress2001 @ 18.09.13, 11:54
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Geschirrspülgedanken (Sie wissen was ich meine)
gentlewoman's agreement - ... stille Übereinkunft ...
Immer wenn ich in diesem großen Haus aus dem Fahrstuhl steige, beginnt mein Herz lautstark zu klopfen, mein Puls erhöht sich und manchmal denke ich, man sieht es mir an. Aber das ist Quatsch, die Menschen welche mir hier ...
sorceress2001 @ 18.09.13, 11:53
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Nun sitze ich hier, schüttle den Kopf über mich selbst und staune tatsächlich über meine eigene, dann doch wohl, kindliche Naivität.
Warum? Ich werde es Euch verraten, ...
sorceress2001 @ 18.09.13, 11:51
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