Neugier

"Entschuldigen sie bitte. Verzeihung, sie da, ja sie. Darf ich fragen, was sie da gerade lesen?". Aufdringlich vor Neugier beugte sich die kleine rundliche Dame mit den silberfarbenen Pudellöckchen zu ihrem Gegenüber. "Ein Buch", nuschelte der ihr gegenüber sitzende, bereits etwas ergraute Gentleman unfreundlich. Diese knappe Antwort ließ die alte Lady unbefriedigt in ihrer Wissbegier. War doch für sie die alltägliche Fahrt mit der S-Bahn eine willkommene Abwechslung. Abermals beugte sie sich vornüber, um den Buchumschlag in Augenschein zu nehmen. Doch dieser wurde seiner Bestimmung vollends gerecht. Auch nicht einen winzigen Einblick gab er frei. "Ist es ein interessantes Buch?" fragte sie. Missmutig blickte der Gentleman kurz auf und erwiderte sein knappes "ja". Sich um einen gelangweilten Gesichtsaudruck mühend, blickte die Dame aus dem Fenster. In rasender Geschwindigkeit sausten Häuser an ihr vorüber. Abwechselnde Landschaftsbilder flimmerten vor ihren wachsamen Augen. Sie versuchte im Spiegel der Scheibe, dem Inhalt der offensichtlich hochinteressanten Lektüre auf die Spur zu kommen. Nun zückte er auch noch seinen goldenen Kugelschreiber und einen winzigen Schreibblock. Hastig kritzelte er darauf herum.
Ungeduldig rutschte die Dame auf ihrem Sitz hin und her. Ihr Herz begann zu rasen. Sie barst schier vor Neugier. Das war gar nicht gut. Ob der Körperfülle und des fortgeschrittenen Alters hatte ihr Hausarzt sie schon mehrfach und eindringlich gewarnt. Jegliche Aufregung müsse vermieden werden. Ihr Kreislauf schien bereits außer Kontrolle zu geraten, während das Blut in den Ohren rauschte. Sie erstarrte. Der Goldkugelschreiber musterte sie nun. Wenn auch kurz, so doch aufmerksam. Sie konnte seinen abschätzenden Blick genau sehen im Scheibenspiegel. Eiskalt, das linke Auge etwas verkniffen, so starrte er sie an, bevor er wieder etwas auf dem winzigen Schreibblock notierte. Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen. Düstere Gedanken. Was mochte er da kritzeln? Was ist das für ein Buch? Alles um sie herum begann sich zu drehen. Sie rang verzweifelt nach Atem, wie ein alternder Goldfisch nach dem Liebesakt. Kurz vor der Einfahrt in den kilometerlangen Tunnel geschah das Unerwartete. Die alte Dame fasste an ihr Herz, bevor sie in sich zusammensackte. Am Zielbahnhof angekommen konnte man nur noch ihren Tod feststellen. Es war zu spät. Der graumelierte Gentleman steckte Kugelschreiber und Notizblock seelenruhig in seine Manteltasche.
Schlug das mysteriöse Buch zu und begab sich zum Ausstieg. Der Strom von Transportwilligen flutete auf den Bahnsteig. Der Herr im Anzug langte mit stoischer Gelassenheit nach seinem Handy.
"Bestattungsinstitut Trauerweide, was können wir für sie tun?", meldete sich eine sonore Bassstimme. "Ich bin es, Chef die Arbeit ruft. Eben ist wieder eine ihrer Neugier zum Opfer gefallen. Die Sargmaße habe ich bereits aufnotiert, die Jungs können sie jetzt holen kommen."
Er sah der gerade auf dem gegenüberliegenden Gleis einfahrenden S-Bahn entgegen. Ließ sich mit all den anderen Reisenden hineinsaugen und nahm Platz. Ihm gegenüber eine üppig, rundliche, kleine alte Dame mit einer feinen Kurzhaarfrisur.

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Heimat

"Ich bin deine Heimat" flüsterte er.
"Geh weg", schrie ich ihn an, "du lügst".
Blind vor Zorn wandte ich mich von ihm ab. Auf gar keinen Fall konnte es so sein, wie er sagte. Niemals. Meine Heimat ist tot. Genau wie ich. Was fiel ihm eigentlich ein, mir solch eine ungeheuerliche Lüge als Wahrheit verkaufen zu wollen?
"So beruhige dich doch", sprach er. "Glaube und vertraue mir."
Wie konnte er nur. Mich in meinem Schmerz derart zu verhöhnen, einfach widerlich. Ich schloss meine Augen und verschloss mein Herz. Nein, auf keinen Fall wollte ich zulassen, dass er zu meiner Heimat wird. Zu sehr hatte er mich gepeinigt, verunsichert, gehetzt. Die vielen Jahre in denen ich ihm vertraute. Wieder und immer wieder. Einmal muss es ein Ende haben.
Erbost über seine allgegenwärtige Liebe zischte ich ihn an: "Was denkst du, wer du bist? Wie kannst du nur behaupten ausgerechnet du wärest meine Heimat?"
Gütig lächelte er und sah mich an. "Du bist hier, hier bei mir. Du hast auch heute wieder zu mir gefunden. Doch deine Suche wird hier längst nicht beendet sein."
Ich spürte wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Am liebsten wäre ich schreiend davon gelaufen. Doch ich blieb. "Wenn es so wäre, wie du sagst, wo warst du all die Jahre? Warum hast du mich nach dir suchen lassen? Du warst nie für mich da, als ich dich dringend brauchte."
"Doch, ich war immer in deiner Nähe. Und du weißt es, sonst wärst du nicht hier", sagte er.
Fast verlor ich den Verstand. Wovon redete er? Ich hätte seine Nähe gespürt, mit Sicherheit, wenn er Recht hätte.
"Komm, ich zeige es dir."
Zwar sträubte ich mich, letztendlich ging ich mit ihm. Ich wollte ihm eine allerletzte Chance geben. Oder wollte ich diese Chance für mich?
Brennende Häuser, schreiende Frauen, weinende Kinder. All das zeigte er mir.
Ich verstand nicht was er von mir wollte. "Ich sehe Tod und Verderben und all das lässt du geschehen? Du bist ein Mörder!", schrie ich ihm zu.
"Nein", sprach er. "Ich bin die Heimat all dessen, was du siehst. Nicht ich lasse es geschehen, ihr lasst es geschehen. Ich bin machtlos. Es betrübt mich genau wie dich, doch ich kann es nicht ändern. Schau ganz genau hin."
"Du willst es nicht ändern", rief ich verzweifelt. "So unternimm doch endlich etwas. Mach diesem Spuk ein Ende, ich flehe dich an".
Aus gütigen Augen sah er mich an, streifte meine Wangen und strich sanft über mein Haar.
"Du kannst es ändern. Du bist Teil all dessen und du hast die Kraft. Steh auf und glaube daran. Vertraue darauf, ich bin deine Heimat."
Als ich bereit war meine Augen und mein Herz wieder zu öffnen, verzogen sich die Rauchschwaden der letzten Granateneinschläge. Ich erhob mich aus dem Staub der verbrannten Erde und dankte ihm, dass ich am Leben war.

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Waschzeremoniell

Im Sternzeichen der Fische geboren, doch eigentlich von Natur aus Sonnenanbeterin, empfinde ich keine Freude an den Wetterkapriolen des sich ankündigenden Herbstes. Schlicht und ergreifend, es nervt, macht mich müde und zieht mich in die dunkelsten Abgründe meines Ichs.
Für eine Seelenmassage sorgt in solchen Momenten ein gemütliches Plätzchen im ledernen Ohrensessel, eine feine Tasse Kaffee und endlos viel Nikotin. Sitzen, nachdenken und in Ruhe gelassen werden. Das ist es, was ich jetzt will.
Dabei kommen mir die seltsamsten Gedanken. Sie trudeln vor meinem inneren Auge und wirbeln herum, als hätten sie nichts Besseres zu tun.
Gestern waren sie wieder zu Besuch. Die Seltsamen. Erst unklar, verworren, doch je intensiver ich mich mit ihnen beschäftigte umso klarer sah ich. Was ich sah? Mein Leben, zerstückelt in Szenen, ähnlich einer Theateraufführung.

Eine dieser Szenen, eine Erinnerung an meine frühe Kindheit, dass allabendliche Waschzeremoniell.

Der alte Wasserboiler in unserer Küche, einem Monster gleich, ächzte und krächzte vor sich hin. Bibbernd und ängstlich stand ich vor dem Waschbecken und wartete bis die Großmutter die Keramikmulde mit lauwarmem Wasser gefüllt hatte. Kein Tropfen durfte verschwendet werden. Daher wurde zuerst der Gummistöpsel in das Becken gequetscht, der Zahnputzbecher unter dem verkalkten Wasserhahn balanciert und gefüllt zur Seite gestellt.
Kläglich tröpfelte das wertvolle Nass derweil ins Becken, während ich hoffte, es möge diesmal nicht zu kalt sein. Der uralte Boiler hatte seine eigenen Vorstellungen von der Wassertemperierung. Nur all zu oft war ich dem Kälteschock näher als der wohligen Wärme. Im Übrigen, auch die Küche war unbeheizt. Ein Badezimmer kannte ich nicht, in meiner Kindheit. Zwei Waschlappen aus Frottee warteten auf ihren Einsatz. Einmal pro Woche wurden sie ausgekocht, der Hygiene wegen. Seife wurde sparsam verwendet und reichte monatelang. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil es immer die gleiche Sorte war. Billig, die Augen reizend, so dass ich stets heulen musste. Sorgfältig wusch mich die Großmutter, manchmal schrubbte sie auch mit einer Bürste.
Heute würde ich sagen, mit solchen Bürsten entfernt man Rost von Stahl. Unangenehm. Während die Waschlappen über meinen kleinen Körper "fitschelten", gab es kaum eine Stelle die tatsächlich länger als einen Wimpernschlag angenehm warm wurde. Entenpellenalarm war angesagt, mit Sicherheit nicht vor Entzücken. Es schien eine Ewigkeit bis die Großmutter zufrieden mit ihrem Werk war. Aus dem Wohnzimmer schleppte sie dann ein Badelaken heran, welches am alten Kachelofen vorgewärmt wurde. Sie hüllte mich liebevoll darin ein, so als wollte sie sich entschuldigen für die Kälte der vergangenen Minuten. Wie eine Schmetterlingspuppe im Seidenkokon hüpfte ich ins Wohnzimmer und durfte mich 10 Minuten aufwärmen. Zärtlich streichelte die Großmutter in dieser Zeit meinen kleinen Kinderrücken. Ich fühlte mich geborgen und umsorgt. Während ich in meinen Flanellschlafanzug schlüpfte reinigte sie sorgfältig das Keramikbecken und befreite es vom schmierigen Seifenrand. Noch schnell die Zähne geputzt, das kalte Wasser war tatsächlich schon zur Gewohnheit geworden. Nun war ich bereit für mein Bett.
Solang ich mich zurück erinnern kann, trug Großmutter mich auf ihren Armen ins Schlafzimmer und versenkte mich mit einem Lächeln in den Kissenbergen. Bedächtig zupfte sie die Daunendecke zu Recht, streichelte mein Gesicht bevor sie mich innig an sich drückte. Dann löschte sie wortlos das Licht und schloss die Tür.

Wenn ich heute unter meiner Dusche stehe, das Wasser wohltemperiert und das Duschgel angenehm duftet, sehne ich mich oft nach dem angewärmten Badelaken und vor allem nach Großmutter.

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Last update: 18.09.13, 12:00

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