Anton und Margot (Zeitschrift Kurzgeschichten 12/2004)
sorceress2001
11:18h
Eisig schneidet der Frost seine Kerben in die müden Gesichter. Erschöpft und ausgezehrt, vor Kälte zitternd, kauern Gestalten in dem Kellerloch nebeneinander. Schmutzige, zerlumpte Elendshaufen, am Ende ihrer Kräfte. Anton versucht, auf einem Fetzen Papier den Rest seiner Gedanken zu ordnen, so gut es geht. Mit steif gefrorenen Fingern umklammert er einen Bleistiftstummel, als ob sein Leben allein davon abhinge. Kaum leserlich kritzelt er mühevoll Buchstabe für Buchstabe. Um ihn herum tobt ein heftiger Schneesturm. Der Atem gefriert bereits kurz nachdem er verbraucht den Körper verlässt. Seine Beine spürt er schon längst nicht mehr. Den nagenden Hunger, der ihm durch die Gedärme rast, umso mehr. In seinem Kopf versammeln sich die Gedanken um das Liebste in seinem Leben. Margot, junge 19 Jahre. Lachend hatte sie ihm zugewinkt, jeden Tag, wenn er auf dem Weg zur Arbeit an ihr vorbei radelte. Mehr als drei Sommer ist es inzwischen her, dass er sie zum ersten Mal sah. Für ihn die ganz große Liebe. Zweifellos, sie sind füreinander bestimmt. Er hat es ihr zugeflüstert, beim Abschied auf dem Bahnsteig. Anton hatte ihr im Abfahrtsgetümmel liebevoll den kleinen goldenen Ring angesteckt. Aus traurigen blauen Augen hatte sie zu ihm aufgesehen und versprochen, auf seine Rückkehr zu warten. Ganz bestimmt. Der Dampf, den die Lokomotive bei der Ausfahrt entlud, hüllte ihre Gestalt in eine zarte Wolke ein. Winkend entschwand sie langsam seinen Blicken. Das Bild eines Engels, so behielt er sie in Erinnerung. Sein Engel! Dicht neben ihm zerreißt das Kreischen der einschlagenden Granate ohrenbetäubend die Winternacht. Fast zeitgleich hört er den röchelnden Aufschrei seines Kameraden. Erdklumpen, vermischt mit Eis und Steinbrocken, prasseln auf ihn nieder. Blut rinnt durch die Reste der ehemals so stolzen Uniform. Einen kurzen Moment lang hebt Anton seinen Kopf. Stumpfsinnig starrt er ins Leere, während sich seine Finger um den Papierfetzen krampfen. Aus einiger Entfernung dringen Schreie an sein Ohr. „Behrends, es hat ihn erwischt! Verdammt noch mal! Wo bleiben die Sanitäter?“. Stimmengewirr, das vom schneidenden Ton des Befehlsführenden zerbrüllt wird. „Deckung!“ Erneut reißt Kugelhagel etliche Leben in Fetzen. So geht es seit vielen Tagen und Nächten, ohne Pause.
„Mein Liebstes“, kritzelt Anton mühsam weiter, „gewiss wird es nicht mehr lange dauern und ich werde heimkehren, zu Dir. Wir alle werden heimkehren, schon bald. Es geht mir gut. Bitte pass auf Dich auf und verliere niemals Deine Hoffnung und Zuversicht.“ Das Flackern der Notbeleuchtung treibt Anton zur Eile. Zu viel gibt es zu sagen, nur wenig darf er schreiben. Längst hat ihn der eigene Glaube verlassen. Zu viele seiner Kameraden fanden bisher den Tod. Jedoch kann er dies den Daheimgebliebenen nicht erklären. Zumindest nicht jetzt. Sie würden sich sorgen, mehr noch, als sie es ohnehin schon tun.
Zu Hause, wie das klingt. Zu Hause, fast schon hat er vergessen wie es sich anfühlt. Sein Platz ist hier. In dieser eisigen Kälte. Ohne Aussicht auf ein Ende. Oft hat er sich nach dem Sinn gefragt. Anfangs war er überzeugt gewesen, das Richtige zu tun. Doch schon lange plagen ihn nun Zweifel. „Wir werden niemals wieder getrennt sein.“, schreibt er weiter. „Wenn das hier alles vorbei ist, werden wir heiraten.“ Ein stummes Lächeln lässt seine Augen für den Bruchteil einer Sekunde aufleuchten.
Maschinengewehrfeuer erhellt die Nacht. Gespenstisch ragen die qualmenden Ruinen des umkämpften Straßenzuges empor. Sturzkampfbomber haben die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Das zerstörte Gemäuer trotzt mit letzter Kraft den immer ohnmächtigeren Angriffsversuchen der 6. Armee, dem Größenwahn ihres Oberbefehlshabers. Alles Menschliche war diesem fremd. Als der Morgen anbrach, fand man Anton, am Boden kauernd und vornüber gebeugt. In seinen blau gefrorenen Fingern einen Papierfetzen, überzogen von einem vereisten Rinnsal aus Blut. Margot sitzt in eine Decke gehüllt in ihrem Wohnzimmer. Gerade hat sie die letzten Kerzen des Weihnachtsbaumes entzündet. Der Tee muss noch etwas ziehen. Im Stövchen flackert ein kleines Licht. Zärtlich und gedankenverloren streichelt sie einen mehr als 60 Jahre alten Papierfetzen. Der Feldpoststempel lässt das Datum nur schwer erahnen. Stalingrad, 24. Dezember 1942. An ihrer rechten Hand blitzt ein kleiner goldener Ring. Verheiratet war sie nie.
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